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'Blended Learning' an der FH der Diakonie

Wie die Praxis ins Studium kommt – Zur Verzahnung von Theorie und Praxis im berufsbegleitenden Studium

Es ist für jede Hochschule ein Dilemma, das Verhältnis von Theorie und Praxis im Studium auszubalancieren. Die Studierenden sollen nicht das Gefühl haben, sie studierten „an der Praxis vorbei“. Die Theorie darf also nicht so abgehoben sein, dass sie mit dem Leben „da draußen“ nichts mehr zu tun hat, denn dann könnte man sie ja getrost vergessen, sobald das Berufleben beginnt.

Durch verschiedene Lehraufträge an Hochschulen bekam ich Einblicke, welches Theorie-Praxis-Verständnis dort vermittelt und gelebt wird: Praxisorientierung wird damals wie heute vielfach mit der Übernahme gewonnener Handlungspraxen und tradierter Wissensbestände im Rahmen zu absolvierender Praktika gleichgesetzt. Das Theorieverständnis, das dabei zum Ausdruck kommt, zielt eher darauf, Handlungswissen für die Praxis zu generieren, ohne diese Praxis an sich auf ihre Strukturen, auf Macht und Anpassungsprozesse zu befragen. In dieser Art der Theoriebildung fehlt die kritische Reflexion des eigenen Handelns, aus der Impulse für die Theorie und die Praxis entstehen können.

So wie es sehr „praxislastige“ bzw. der Praxis gegenüber sehr unreflektierte Ausbildungsgänge gibt, existieren gleichzeitig stark auf Theorie fokussierte Studienkonzepte. Hier besteht die Gefahr, dass es vor lauter Reflexion jenseits akademischer Gefilde zu keinem wirklichen Kontakt mit der Praxis kommt.

Das Theorie-Praxis-Verhältnis an der FH der Diakonie

Ich möchte nun nicht behaupten, dass ich an meinem jetzigen Arbeitsplatz den Ort der perfekten Symbiose von Theorie und Praxis gefunden habe. Berufsbegleitende Studiengänge haben jedoch den Vorteil, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer bereits auf lange Praxiserfahrungen zurückblicken und in der Regel bereit sind, diese Erfahrung ins Studium einfließen zu lassen. Vor diesem Hintergrund ist es möglich, das Spannungsfeld von Theorie als Reflexionsinstanz einerseits und als Grundlage pädagogischer Alltagspraxen andererseits zu erhalten. Die Konstruktion eines berufsbegleitenden Studiums liefert die Praxis quasi direkt in die Fachhochschule hinein: Die jeweilige Berufstätigkeit ist den Studierenden ganz nah und kann immer wieder in das Studium einbezogen werden. Die Theorie-Praxis-Verzahnung ergibt sich allerdings nicht nur aus der Tatsache, dass alle Studierenden im Beruf standen und stehen, sondern der Anspruch des forschenden Lernens muss auch curricular verortet werden. Die Modularisierung von Studiengängen bringt die Chance mit sich, dieses Lernen strukturell zu verankern. Das bedeutet, dass in jedem Modul Phasen des Präsenzstudiums vor Ort, E-Learning-Einheiten, Phasen des Selbstlernens, Lernen in den Lerngruppen sowie Praxisprojekte ausgewiesen sind. Alle Elemente des Moduls sind mit unterschiedlichem zeitlichen Aufwand (Workload) hinterlegt und immer mit den Inhalten des jeweiligen Moduls verknüpft. Unabhängig von der Lehrperson ist formal eine Verzahnung von Theorie und Praxis strukturell und organisatorisch gegeben.

Die strukturelle Verortung des Theorie- und Praxisverhältnisses ist die eine Seite, deren Ausgestaltung die andere. Zwar ist durch die Festschreibung in den Modulen schon viel für eine Verknüpfung von Theorie und Praxis getan, über die Umsetzung sowie das Theorie-Praxis-Verständnis sagt diese Struktur jedoch erst einmal nichts. Mir ist es als Lehrende wichtig, dass die Studierenden in ihrem beruflichen Handeln für die eigene Beteiligung an Konstruktionsprozessen in der Sozialen Arbeit sensibilisiert werden. Dabei geht es mir um die Reproduktion sozialer Über- und Unterordnungen (warum und wie wird ein Problem ein soziales Problem?). Es geht mir außerdem um das Hinterfragen von mentalen Modellen und Deutungsmustern (eigene Vorannahmen und Perspektiven auf Klientinnen und Klienten, Vorstellungen über gelungene Interventionen und Fallverläufe). Dazu gehört der Blick über den Horizont des eigenen Handelns hinaus, also die Frage, wem Soziale Arbeit verpflichtet ist und welches die institutionellen, organisatorischen und strukturellen Parameter des eigenen Handelns sind.

Im berufsbegleitenden Studium ist die Bearbeitung dieser Fragestellungen vergleichsweise einfach, weil die Praxis der Studierenden stets gegenwärtig ist und sie nicht erst durch Projekte oder Praktika konstruiert werden muss.

Forschendes Lernen

Um den Studierenden im berufsbegleitenden Studium forschendes Lernen ganz konkret zu ermöglichen, gebe ich ihnen Rechercheaufträge, die sie in ihren eigenen beruflichen Handlungsfeldern bearbeiten: Wenn z. B. im Modul Soziale Arbeit das Thema Ethik ein Schwerpunkt ist, dann findet neben der Auseinandersetzung mit theoretischen Überlegungen zur Implementierung von Menschenrechten in die Soziale Arbeit eine Untersuchung der eigenen Arbeitsfelder statt. Die Studierenden prüfen, inwieweit Menschenrechte dort Berücksichtigung finden. Auf der Basis dieser Untersuchung wird dann diskutiert, wie sich Strukturen, Organisation, das eigene Handeln und Konzepte der jeweiligen Felder Sozialer Arbeit ändern müssen, damit die Achtung von Menschenrechten fester Bestandteil des Praxisalltages wird.

Auch in anderen Modulen, in denen die Beschäftigung mit Macht und Anpassungsprozessen nicht qua Thema gegeben ist, kann ich forschendes Lernen unterstützen. Bei der Einführung in das wissenschaftliche Arbeiten bekommen die Studierenden von mir das Oberthema „Frauen und Männer in der Arbeitswelt“ für ihre zu verfassende Hausarbeit. Während die Studierenden an ihrer Hausarbeit schreiben, nehmen sie im Rahmen des Praxisprojektes in diesem Modul gleichzeitig eine Genderanalyse im Sinne der Strategie des Gender Mainstreaming in ihrem Arbeitsfeld vor. Rückgekoppelt wird diese Analyse zum einen in der Lerngruppe und zum anderen in den Präsenzen. Flankierend dazu recherchieren die Studierenden im Modulteil „IT-Lernen“ Materialien, Studien und Aufsätze zum Thema Genderforschung und bereiten eine Präsentation vor. Das Thema Gender stößt bei den Studierenden nicht immer auf Gegenliebe („Ist doch Schnee von gestern“, „Frauen dürfen doch heute alles“). Wenn sie jedoch die Genderanalysen durchgeführt haben, sind sie über die Ergebnisse oftmals sehr erstaunt: Soziale Arbeit ist ein Frauenberuf. In Teilzeit arbeiten mehr Frauen als Männer. In den höheren Hierarchieebenen finden sich mehr Männer als Frauen Es überwiegt die klassische Arbeitsteilung, denn Frauen erledigen sehr häufig Beziehungsarbeit und machen es „schön“, während Männer mit den Jungs raufen und die schweren Sachen schleppen…
Die Studierenden, die schon etwas weiter in ihrem Studium sind, berichten, dass sie durch dieses Austarieren von Theorie und Praxis lernen, was theoretische Erkenntnisse für das jeweilige Arbeitsfeld bedeuten und wie sie durch das Wissen über Theorie ganz allmählich das eigene Arbeitsfeld verändern können. Theorie tritt in diesem Kontext als Reflexionsinstanz für das eigene praktische Handeln auf. Der hochschuldidaktische Kern liegt in der eigenen Untersuchungstätigkeit der Studierenden - kurz: im forschenden Lernen. Hierzu bedarf es neben einer strukturellen und curricularen Verortung dieses Theorie-Praxis-Verhältnisses auch der Bereitschaft der Studierenden, sich auf ein Hinterfragen der eigenen Praxis einzulassen. Das muss ich auch als Lehrende, denn im Prozess des forschenden Lernens reicht es nicht aus, Expertinnenwissen zu haben, sondern ich muss den Studentinnen und Studenten auch Räume und Orte für eigenverantwortliches Lernen bereitstellen und den Verlauf der Lernprozesse moderierend begleiten. Diese Art der Lehre ist nur möglich, wenn ich ebenso bereit bin, eine Reflexion meines eigenen Handelns, meiner „Lehrpraxis“ vorzunehmen und somit als Lehrende ebenfalls forschendes Lernen zu betreiben.

Dieser Artikel ist eine gekürzte Fassung des Aufsatzes von Andrea Schmidt „Lehren und Lernen mit und für die Praxis – Zur Verzahnung von Theorie und Praxis im berufsbegleitenden Studium“. Erschienen in: Sozial Extra 1